Innenministerin stellt Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022 vor

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Magdeburg. MI. Extremisten unterschiedlicher Phänomenbereiche – darunter insbesondere Rechtsextremisten, „Reichsbürger“, Angehörige der „Delegitimierer“-Szene und Linksextremisten – versuchen aktuelle Krisensituationen zu nutzen, um ihre Ideologie zu verbreiten und Misstrauen gegen den Staat zu säen. War es im Jahr 2021 die Corona-Pandemie, nutzten Extremisten im vergangenen Jahr das Protestgeschehen rund um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die Inflation sowie steigende Energiepreise, um diese Proteste für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Teilnehmerzahlen der Proteste blieben jedoch deutlich hinter den Erwartungen extremistischer Akteure zurück.

Diese und weitere Entwicklungen sind im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2022 nachzulesen, der am heutigen Dienstag von Innenministerin Dr. Tamara Zieschang und dem Leiter der Verfassungsschutzabteilung, Jochen Hollmann, vorgestellt wurde.

Innenministerin Dr. Tamara Zieschang: „Unsere freiheitliche Gesellschaft und unser demokratisches Gemeinwesen werden von vielen Seiten bedroht. Extremisten nutzen zunehmend Krisensituationen, um die öffentliche Debatte dazu in Richtung demokratiefeindlicher Positionen zu verschieben. Der Verfassungsschutz ist für diese komplexe Bedrohungslage gut gerüstet. Er arbeitet in enger Abstimmung mit anderen Sicherheitsbehörden tagtäglich daran, unsere Gesellschaft vor ihren Feinden zu schützen.“

Rechtsextremistische Szene weist nach wie vor das größte Personenpotenzial auf

Die rechtsextremistische Szene in Sachsen-Anhalt befindet sich mit etwa 1.270 Personen ungefähr auf dem Niveau des Vorjahres (2021: 1.250 Personen). Von allen Phänomenbereichen des politischen Extremismus weist sie damit nach wie vor das größte Personenpotenzial auf.

Den mit Abstand größten Teil des Phänomenbereichs Rechtsextremismus bildet das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial, welches im Jahr 2022 auf 900 Personen (2021: 780 Personen) angestiegen ist. Zu diesem Spektrum zählen eine Vielzahl von Einzelpersonen, regional verankerte Personenzusammenschlüsse, virtuelle Gruppen, rechtsextremistische Vertriebe sowie Bands und Liedermacher, die Teil der rechtsextremistischen Musikszene sind. Ein großer Teil des Personenpotenzials wird vom Verfassungsschutz als gewaltbereit eingestuft.

Über das in Schnellroda im Saalekreis ansässige „Institut für Staatspolitik“ (IfS) hat der Verfassungsschutz erstmals in seinem Jahresbericht 2020 berichtet. Auch im Jahr 2022 ist das IfS eines der wichtigsten Akteure der „Neuen Rechten“, die versuchen, rassistische und antidemokratische Positionen in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Am 23. Februar 2023 hat das Verwaltungsgericht (VG) Magdeburg einen Eilantrag des IfS auf Nichtnennung im Verfassungsschutzbericht abgelehnt. In seinem Beschluss folgt das Gericht der Einschätzung der Verfassungsschutzbehörde, dass der vom IfS propagierte völkisch-abstammungsmäßige Volksbegriff gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstößt. Im Nachgang der Entscheidung des VG im einstweiligen Rechtsschutz, die mittlerweile rechtskräftig ist, hat das IfS seine Klage im Hauptsacheverfahren zurückgezogen. Der Verfassungsschutz wird daher auch künftig über das IfS als rechtsextremistische Bestrebung berichten.

Das Personenpotenzial rechtsextremistischer Parteien ist im Vergleich zum Vorjahr auf 190 Personen angestiegen (2021: 165 Personen). Gründe hierfür sind u. a. die Aktivitäten der rechtsextremistischen Kleinstparteien „Neue Stärke Partei“ (30 Mitglieder) sowie „Der III. Weg“ (45 Mitglieder). Der Niedergang der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands setzt sich hingegen weiter fort – die Mitgliederzahl sank im Jahr 2022 auf weniger als 100 Personen (2021: 120 Mitglieder).

Der parteiungebunde, vornehmlich neonazistisch geprägte Teil der rechtsextremistischen Szene hat im Vergleich zum Vorjahr weiter abgenommen (2022: 255 Personen; 2021 395 Personen). Diese Entwicklung ist u. a. auf die Zunahme des parteigebundenen Personenpotenzials zurückzuführen – die Strukturen der „Neuen Stärke Partei“ waren im Verfassungsschutzbericht 2021 noch dem parteiungebundenen Teil der rechtsextremistischen Szene zugewiesen worden.

Verein „Weda Elysia e.V.“ als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft

Zum parteiungebundenen Rechtsextremismus zählt der Verfassungsschutz neben regionalen neonazistischen Gruppierungen wie der „Harzrevolte“ oder der „Aktionsgruppe Dessau-Bitterfeld“ auch sogenannte „völkische Siedlungsbestrebungen“. Diese Gruppierungen siedeln sich in ländlichen Regionen an, um dort Rückzugsräume für ein ungestörtes Praktizieren ihrer völkischen Lebensweise zu schaffen und ihre Umgebung mit entsprechenden Aktivitäten ideologisch zu vereinnahmen.

Ein Beispiel für ein völkisches Siedlungsobjekt ist der Verein „Weda Elysia e. V.“, der über eine Immobilie in Blankenburg OT Wienrode (Landkreis Harz) verfügt. „Weda Elysia e. V.“ ist der antisemitisch geprägten „Anastasia“-Bewegung zuzurechnen und hat enge Verbindungen zu anderen rechtsextremistischen Akteuren wie dem neonazistischen Verein „Artgemeinschaft“. Der Verfassungsschutz hat den Verein „Weda Elysia e. V.“ im Jahr 2022 als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft.

Personenpotenzial der Reichsbürgerszene seit 2020 um fast ein Drittel angestiegen

Der Verfassungsschutz rechnet dem Phänomenbereich der Reichbürgerszene im Jahr 2022 650 Personen zu (2021: 600; 2020: 500). Vor dem Hintergrund der mit der Corona-Pandemie und dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine einhergehenden gesellschaftlichen Verunsicherungen konnte die Szene erfolgreich neue Anhänger rekrutieren. Um sich die Ursachen solcher Weltgeschehnisse zu erklären, nutzen „Reichsbürger“ ihre eigenen verschwörungsideologischen Erzählungen. Auf Social-Media-Kanälen und in Online Foren bestärken sich Szeneangehörige gegenseitig in ihrer Weltansicht.

Dem „Königreich Deutschland“ (KDR) ist es auch im Jahr 2022 durch umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit gelungen, seine Anhängerschaft zu vergrößern und räumlich zu expandieren. Das KDR ist nach wie vor der größte und aktivste Personenzusammenschluss der Reichsbürgerszene in Sachsen-Anhalt mit dem Ziel, ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Staatswesen zu errichten, welches sich autark versorgen kann. Um Gewerbetreibende wirbt das KDR mit einer vermeintlichen Aussicht auf ein „steuerfreies Wirtschaftssystem“, ein „autarkes und geschlossenes zinsfreies Geldsystem“ sowie „verminderte Sozialabgaben“. Das KDR ist zudem weiterhin bemüht, großflächige Immobilien zu erwerben, um „Gemeinwohldörfer“ zu errichten. Für Kommunen ist es oft schwierig, Kaufinteressenten mit Verbindung zum KDR als solche zu identifizieren. Erlangt der Verfassungsschutz frühzeitig Kenntnis von den Vorhaben des KRD, sensibilisiert er alle wichtigen Akteure innerhalb der Verwaltung sowie die kommunalen Amts- und Mandatsträger der jeweiligen Region.

„Bewegung Halle“ dem Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ zugeordnet

Die Aktivitäten der Personenzusammenschlüsse und Einzelpersonen, die der Verfassungsschutz dem Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ zurechnet, haben sich im Jahr 2022 verstetigt. Die Szene ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie das politische System der Bundesrepublik Deutschland verächtlich macht, Repräsentanten des Staates bedroht und in den sozialen Medien Falschinformationen und Verschwörungsideologien verbreitet.

Ein Beispiel für eine Gruppierung in Sachsen-Anhalt ist die „Bewegung Halle“, die u. a. in rechtsextremistischen und „Reichsbürger“-Kreisen populäre Verschwörungsnarrative verbreitet. Ein Verschwörungsnarrativ ist beispielsweise das „Great Reset“, das die Existenz eines von einflussreichen Eliten entwickelten Geheimplans behauptet, dessen Ziel die Auflösung ethnischer Identitäten und die Errichtung einer autoritären Weltregierung sei.

Personenpotenzial im Linksextremismus, Islamismus und Auslandsbezogenen Extremismus auf gleichbleibendem Niveau

Im Jahr 2022 rechnet der Verfassungsschutz der linksextremistischen Szene in Sachsen Anhalt – genau wie im Vorjahr – 600 Personen zu. Das insbesondere von autonomen Gruppierungen geprägte gewaltorientierte Spektrum bildet etwa die Hälfte des Personenpotenzials. Der Schwerpunkt der Szeneaktivitäten liegt hier erneut auf den Aktionsfeldern „Antikapitalismus“ und „Antifaschismus“. Wegen szeneinterner Konflikte zur Positionierung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine finden die gewaltorientierten Linksextremisten kaum einen übergreifenden Aktionskonsens. Die internen Auseinandersetzungen deuten auf einen langfristigen Prozess der Neuordnung hin.

Die andere Hälfte des Personenpotenzials im Linksextremismus bildet das nicht gewaltorientierte Spektrum. Dazu zählen der Verein „Rote Hilfe e. V.“ sowie die kommunistischen Parteien DKP und MLPD.

Das islamistische Personenpotenzial liegt seit dem Jahr 2019 stabil bei etwa 400 Personen. Davon werden unverändert ca. 100 Personen dem Salafismus zugerechnet. Salafistische Prediger etablieren sich dabei zunehmend als „Influencer“ in den sozialen Medien. Auch eine Zunahme von salafistischen Video-Streams, Podcasts, Online-Seminaren und plattformübergreifenden salafistischen Internetpräsenzen ist zu beobachten.

Wie schon in den Vorjahren ist die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) die einzige ausländische extremistische Organisation, die in Sachsen-Anhalt über nennenswerte Strukturen verfügt. Das Personenpotenzial liegt seit 2016 konstant bei etwa 250 Anhängern. Ihre Aktivitäten beschränken sich vor allem auf die Sammlung von Spendengeldern, die Durchführung regionaler versammlungsrechtlicher Aktionen und die Teilnahme an zentralen PKK-Großveranstaltungen im Bundesgebiet.

Verfassungsschutz fokussiert hybride Bedrohungen

Hybride Bedrohungen zielen darauf ab, das gesellschaftliche und politische Gefüge in einem Land zu schwächen. Ein Beispiel dafür sind Desinformationskampagnen, mit denen autokratische Staaten wie Russland oder China die politischen Ordnungen westlicher Staaten zu schwächen versuchen. Russische Desinformationskampagnen haben seit dem Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russland auf die Ukraine ein bislang nicht gekanntes Ausmaß erreicht. Um mit Falschmeldungen, Desinformation und Propaganda die Meinung in Deutschland zu beeinflussen, werden nicht nur staatsnahe Medien, sondern auch die sozialen Netzwerke genutzt. 

Eine weitere Bedrohung für die innere Sicherheit stellen Cyberangriffe dar, die sich im Jahr 2022 auch gegen Ziele in Sachsen-Anhalt richteten. Der Cyberakteur „Ghostwriter“ ist dem russischen militärischen Nachrichtendienst GRU zuzurechnen und hat bereits im Vorjahreszeitraum Personen des öffentlichen Lebens in Sachsen-Anhalt virtuell attackiert.

Die Volksrepublik China setzt zunehmend auf Aktivitäten im Cyberraum, insbesondere zum Zweck der Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage. Der beim Verfassungsschutz angesiedelte Wirtschaftsschutz berät die in Sachsen-Anhalt ansässigen Unternehmen, wie sie sich effektiv gegen solche Angriffe und Ausspähversuche schützen können.