Jahresbilanz der Mobilen Opferberatung 2023

CSD Pride Week Queer
© H@llAnzeiger

Halle. MOb. 233 politisch rechts motivierte Angriffe mit 332 direkt Betroffenen hat die Mobile Opferberatung für das Jahr 2023 in Sachsen-Anhalt registriert. „In dem erheblichen Ausmaß der Gewalt und der Verteilung der Tatmotive und Tatorte spiegelt sich ein dramatisches Rassismus-Problem in Sachsen-Anhalt“, warnt Antje Arndt, Projektleitung der Mobilen Opferberatung.

Neben 140 Körperverletzungen1 (2022: 142), fünf massiven Sachbeschädigungen (2022: 3), zwei Raubstraftaten (2022: 1) sowie zwei Brandstiftungen (2022: 4) wurden für das vergangene Jahr auch 84 Bedrohungen bzw. Nötigungen als Angriffe dokumentiert (2022: 17).

Die Verfünffachung der Bedrohungen bzw. Nötigungen in 2023 im Vergleich zum Vorjahr ist auf eine Änderung der Erfassungskriterien zurückzuführen, auf die sich die Mitgliedsorganisationen im Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt geeinigt haben. Doch auch ohne die veränderte Zählweise zeigt sich ein Anstieg der Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr (2023: 163; 2022: 159).2 

Sachsen-Anhalt hat ein dramatisches Rassismus-Problem

Mit 168 Angriffen3 und 238 direkt Betroffenen in 2023 ist Rassismus mittlerweile in fast drei Vierteln aller Fälle das bei weitem häufigste Tatmotiv (2022: 112 mit 165 direkt Betroffenen). Mindestens 38 Jugendliche und 20 Kinder waren Ziel der Angriffe (2022: 17 Jugendliche, 30 Kinder).4 Zwei Beispiele machen deutlich, wie Kinder und Jugendliche zur Zielscheibe rassistischer Gewalt wurden: Eine 10-Jährige und ihre 39-jährige Mutter wurden am 12. Juni 2023 plötzlich an einem Spielplatz in Magdeburg von einem Unbekannten angepöbelt und angegriffen. Eine 14-jährige Schülerin aus Syrien wurde am 27. Juni 2023 in Hettstedt (Mansfeld-Südharz) von einem unbekannten Jugendlichen aufgefordert, ihr Kopftuch abzulegen. Als sie sich weigerte, schlug der Jugendliche sie zu Boden.

Verdopplung queerfeindlicher Gewalt nach extrem rechten Mobilisierungen

Eine Verdoppelung bei der Gewalt gegen LGBTIQ* hat die Mobile Opferberatung für das Jahr 2023 mit 22 Angriffen und 32 direkt Betroffenen im Vergleich zum Vorjahr (2022: 11 Angriffe mit 14 Betroffenen) und damit die höchsten Zahlen seit Beginn des Monitorings verzeichnet. In zehn Fällen handelte es sich um einfache, in sieben um gefährliche Körperverletzung. So wurde etwa am 5. Juni 2023 ein 22-Jähriger mittags in Halle (Saale) von vier Jugendlichen schwulenfeindlich beleidigt, bedroht und ihm Reizgas ins Gesicht gesprüht.

Allein im Kontext der Demonstrationen zum Christopher Street Day wurden in sechs Städten 10 Angriffe mit mindestens 17 direkt Betroffenen verübt – darunter Schönebeck (Salzlandkreis), Wernigerode (Harz) und Halle (Saale). Den Angriffen gingen häufig extrem rechte Mobilisierungen voraus. Für die CSD-Saison 2024 braucht es nach Auffassung der Projektleitung auch eine verbesserte Polizeiarbeit zum Schutz der Veranstaltungen. 

Antisemitismus dritthäufigstes Tatmotiv

Mit 20 registrierten antisemitischen Angriffen und 22 direkt Betroffenen ist Antisemitismus in 2023 erstmalig dritthäufigstes Tatmotiv in Sachsen-Anhalt. Dieser Anstieg im Vergleich zum Vorjahr (2022: 9 Angriffe mit 11 direkt Betroffenen) ist vor allem auf die veränderte Zählweise von Bedrohungen zurückzuführen. So wurden für 2023 17 antisemitische Bedrohungen in die Statistik aufgenommen (2022: 4). Davon wurden 14 im Internet verübt.

Mit drei registrierten Körperverletzungen wurde eine Gewalttat mehr als im Vorjahr dokumentiert: So wurde am 5. Februar 2023 in Zeitz (Burgenlandkreis) ein 63-jähriger Mann in einer Gaststätte von zwei Männern antisemitisch beleidigt und anschließend körperlich attackiert. Israelbezogener Antisemitismus war das Motiv eines Angriffs am 28. Oktober 2023 in Halle (Saale), bei dem augenscheinlich israel-solidarische Aktivist*innen von einem jungen Mann als „Zionisten“ angepöbelt und angespuckt wurden.

Straßen, öffentliche Verkehrsmittel und Haltestellen als Gefahrenzonen

127 und damit mehr als die Hälfte der politisch rechts motivierten Angriffe in 2023 in Sachsen-Anhalt wurden im öffentlichen Raum verübt (2022: 99): 87 auf öffentlichen Straßen und Plätzen und 40 in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie an Bahnhöfen bzw. Haltestellen (2022: 25). Damit hat sich die Gewalt in und an öffentlichen Verkehrsmitteln in 2023 nahezu verdoppelt.

„Es ist völlig inakzeptabel, dass öffentliche Räume in Sachsen-Anhalt immer mehr zu Gefahrenzonen für all diejenigen werden, die von potenziellen rechten, rassistischen und antisemitischen Täter*innen als minderwertig abgelehnt werden“, betont Arndt. 

Alarmierend sind auch die 38 dokumentierten Angriffe in 2023, die im direkten Wohnumfeld der Betroffenen verübt wurden (2022: 22). So wie der nächtliche Steinwurf am 18. November 2023 gegen ein Fenster einer Geflüchtetenunterkunft in Braunsbedra (Saalekreis). Zuvor hatten die Täter zwei etwa einen halben Meter große Hakenkreuze an die Fassade des Mehrfamilienhauses gesprüht.

Mit 67 Angriffen und 88 direkt Betroffenen wurden in der Stadt Halle (Saale), wie schon in den Vorjahren in 2023 Sachsen-Anhalt-weit die meisten Taten verübt, gefolgt von der Landeshauptstadt Magdeburg mit 56 Angriffen und 77 direkt Betroffenen. Weitere Schwerpunktregionen und damit Hotspots rechter Gewalt waren der Landkreis Harz (17), der Saalekreis (16), der Landkreis Anhalt-Bitterfeld (12) sowie mit jeweils 11 Angriffen die Landkreise Mansfeld-Südharz, Dessau-Roßlau und der Burgenlandkreis.

Fazit

Rechte, rassistische und antisemitische Gewaltstraftaten in Sachsen-Anhalt haben sich seit nunmehr fünf Jahren auf etwa gleichbleibend hohem Niveau stabilisiert. Der massive Anstieg der Bedrohungen bzw. Nötigungen, welcher aus der erstmaligen Auswertung und Aufnahme aller uns bekannt gewordenen Fälle aus 2023 resultiert, lässt einmal mehr erahnen, wie massiv rechte, rassistische und antisemitische Gewalt den Alltag vieler Betroffener beeinflusst. Denn sie ist oft nur die Spitze des Eisbergs alltäglicher Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, die sich auch in öffentlichen Debatten und politischen Praxen widerspiegeln.

___________________________________________
1 Davon waren 93 einfache und 47 gefährliche Körperverletzungen.

2 Nach alter Zählweise hätte die Mobile Opferberatung für 2023 163 politisch rechts motivierte Angriffe verzeichnet. Für 2022 waren es zum Vergleichszeitpunkt der Erstveröffentlichung 156. Durch Nachmeldungen hat sich diese Zahl mittlerweile auf 167 Gewalttaten erhöht.

3 davon 76 einfache Körperverletzungen, 32 gefährliche Körperverletzungen, 52 Bedrohungen, 4 massive Sachbeschädigungen, zwei Brandstiftungen, zwei Raubstraftaten.

4 Jugendliche: zwischen 14 und 17 Jahren; Kinder: 0 bis 13 Jahre.