Negativrekord: Halle mit den meisten politisch rechts motivierten Straftaten

Grafik: Mobile Opferbratung.

Halle. MOb. Für das Jahr 2022 hat die Mobile Opferberatung 156 politisch rechts bzw. vorurteilsmotivierte Gewalttaten mit 227 direkt Betroffenen registriert. Allein in Halle (Saale) wurden 48 Straftaten verzeichnet.

Bei 85 Prozent der Taten handelt es sich um Körperverletzungsdelikte (133). Davon sind 41 Prozent gefährliche Körperverletzungen (55). Damit hält sich die Anzahl der Gewalttaten auf dem besorgniserregend hohen Niveau der Vorjahre: Auch in 2022 wurden mindestens alle zwei bis drei Tage Menschen in Sachsen-Anhalt aus rassistischen, rechten, antisemitischen und/oder LGBTIQ*-feindlichen Motiven angegriffen und verletzt. Dabei ist von einer hohen Anzahl nicht angezeigter und auch der Mobilen Opferberatung nicht bekannt gewordener politisch rechts motivierten Gewalttaten auszugehen, die bislang in keiner Statistik erscheinen.

Grafik: Mobile Opferbratung.

Besonders alarmierend für 2022 ist der massive Anstieg rassistisch motivierter Gewalt: War Rassismus in 2021 bei fast jedem zweiten dokumentierten Angriff das Haupttatmotiv (47%), hat sich der Anteil rassistischer Gewalttaten in 2022 auf zwei Drittel erhöht (65%). Von den insgesamt 102 rassistisch motivierten Angriffen in 2022 waren 145 Menschen direkt betroffen (2021: 98).

Auch Kinder und Jugendliche betroffen

Unter den Angegriffenen befanden sich auch 22 Kinder unter 14 Jahren und 11 Jugendliche unter 18 Jahren (2021: 17 Kinder, 11 Jugendliche).

Beispiele
Etwa die zwei 12- und 13-jährigen Mädchen mit Migrationsgeschichte, die am 20. Juni 2022 bei Verlassen eines Supermarktes in Zeitz (Burgenlandkreis) von einer Unbekannten rassistisch beleidigt und von ihrem Begleiter ins Gesicht geschlagen wurden. Oder das 13-jährige Mädchen aus der Ukraine, dem am 12. November 2022 beim Aussteigen aus einer Straßenbahn in Halle (Saale) ein Bein gestellt und es dann von zwei Jugendlichen rassistisch beleidigt, bedroht und körperlich attackiert wurde.

Dieser Angriff auf die Schülerin ist einer von insgesamt neun Gewalttaten im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, welche die Mobile Opferberatung für 2022 als antislawistisch motiviert erfasst hat. Davon waren 11 Menschen direkt betroffen.

Acht weitere Personen waren als Mitangegriffene indirekt betroffen:

Am 10. März 2022 in Halle (Saale) etwa gingen zwei 42- und 65-jährige Ukrainerinnen auf einen extrem rechten Mann zu. Dieser hatte am Rande einer Kundgebung für Frieden für die Ukraine provokativ eine Russlandfahne geschwenkt. Als die ältere der beiden ihn aufforderte, die Fahne herunterzunehmen, wurde sie von ihm schmerzhaft gegen die Brust gestoßen.

Nur einen Tag später, am 11. März 2022, wurde ein 50-jähriger Russe, der gerade mit seiner ukrainischen Frau und ihrem 5-jährigen Sohn in Halle (Saale) unterwegs war, von einem Unbekannten für den Angriffskrieg Russlands mitverantwortlich gemacht, bedroht und geschlagen.

Am 20. Oktober 2022 wurden in Bitterfeld-Wolfen zwei 38- und 14-jährige Ukrainerinnen aus rassistischen Motiven in einem Geschäft geschlagen und verletzt.

Gewalt gegen politische Gegner

33 politisch rechts motivierte Angriffe in 2022 richteten sich gegen Menschen, die aufgrund ihres Äußeren, ihres zivilgesellschaftlichen bzw. politischen Engagements oder ihres Einschreitens gegen rechts gezielt als politische Gegner attackiert wurden. 56 Menschen waren davon direkt betroffen.

Beispiele
Teilnehmende einer Kundgebung gegen den Auftritt eines Kabarettisten am 17. Juni 2022 in Halle (Saale) wurden durch einen Bierflaschenwurf attackiert. Zum Glück wurde niemand getroffen.

Zwei 27- und 28-Jährige, wurden am 6. August 2022 in Naumburg (Burgenlandkreis) geschlagen, weil sie das lautstarke Skandieren von Naziparolen nicht dulden wollten.

Corona-Bezug

Bei 11 dieser Angriffe mit insgesamt 22 direkt Betroffenen gab es einen Bezug zu den damals geltenden Corona-Schutzmaßnahmen (2021: 21 mit 25 direkt Betroffenen). In sieben dieser Fälle waren Journalisten das Ziel.

Beispiel
Eine Gruppe von Beobachtern wurde bei einer Demonstration der (als verschwörungsideologisch geltenden) Bewegung Halle am 17. Januar 2022 in Halle (Saale) von einer Gruppe überwiegend Vermummter gejagt und mit Schlägen und Tritten attackiert. 

LGBTIQ*-Feindlichkeit

Weiterhin besorgniserregend ist die körperliche Gewalt gegen Menschen, deren (vermeintliche) geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht der zweigeschlechtlichen, cis-geschlechtlichen1 und/oder heterosexuellen Norm entsprechen. Für 2022 hat die Mobile Opferberatung in Sachsen-Anhalt 11 LGBTIQ*-feindliche Gewalttaten mit 14 direkt Betroffenen registriert (2021: 10 Angriffe, 11 direkt Betroffene).

Beispiele
Ein 26-jähriger Student wurde am 22. September 2022 im Zug und am Bahnhof in Merseburg von zwei Männern frauen- und schwulenfeindlich beleidigt, mit der Faust ins Gesicht geschlagen und einer Bierflasche beworfen wurde.

Eine 18-jährige CSD-Teilnehmerin wurde am 10. September 2022 in Halle (Saale) von einer Frau aus einer extrem rechten Spontankundgebung gegen den CSD heraus abgefilmt und geschlagen. Erst eine Woche zuvor war der trans-Mann Malte C. in Folge von Schlägen gegen ihn auf dem CSD in Münster (Nordrhein-Westfalen) gestorben.

Zunahme antisemitischer Gewalt

Antisemitismus war in 2022 bei 9 Angriffen zentrales Tatmotiv, womit sich die Zahl im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt hat (2021: 5). Diesen Taten wurden 11 direkt Betroffene zugeordnet.

Beispiele
Am 5. Mai 2022 wurde ein Paar mit seinem Pkw auf der Landstraße Nähe Holleben (Saalekreis) von einem Transporter bedrängt, der Weg versperrt und dann wurde von dem Trio unter antisemitischen Beleidigungen auf das Autodach geschlagen.

Besonders folgenschwer war die immer weiter eskalierende antisemitische Gewalt gegen einen Mann in Brachwitz (Saalekreis). Innerhalb von nur fünf Wochen musste der 52-Jährige vier Angriffe in seinem direkten Wohnumfeld durchleben. Im August und September 2022 wurde er von seinem Nachbarn aus antisemitischer Motivation heraus massiv bedroht und schließlich Brandanschläge auf sein Auto und ein Nebengebäude auf seinem Grundstück verübt.

Angriffe im öffentlichen Raum mit verheerendem Signal

Der überwiegende Teil der dokumentierten Angriffe wurde auch in 2022 im öffentlichen Raum verübt (91 ≙ 58 %), also auf öffentlichen Straßen und Plätzen (66, davon 18 im Umfeld von Demonstrationen) sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln (17) und an Bahnhöfen und Haltestellen (8). 

Bedenklich sind auch die 21 dokumentierten Angriffe in 2022, die im direkten Wohnumfeld der Betroffenen verübt wurden. Denn die Folgen für die Betroffenen sind hier oftmals besonders gravierend, weil die wichtige Schutz- und Rückzugsfunktion, die der eigene Wohnraum für Menschen hat, damit entfällt. 11 Gewalttaten wurden in und an Einkaufszentren und Supermärkten begangen, sechs weitere in Lokalen, beispielsweise in und an Imbissen und Diskotheken.

Beispiel
Am 2. Januar 2022 wurde ein 31-Jähriger, der vor einem Imbiss in Halle (Saale) verbal gegen das laut-starke Rufen einer Nazi-Parole interveniert hatte, vom Täter mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

Fazit

Rechte, rassistische, antisemitische und LGBTIQ*-feindliche Gewalt in Sachsen-Anhalt hat sich auf einem besorgniserregend hohen Niveau stabilisiert. Dabei ist die Anzahl der dokumentierten Angriffe nur ein Indikator für das tatsächliche Ausmaß vorurteilsmotivierter Gewalt und Diskriminierung in Sachsen-Anhalt.

„Umso wichtiger ist es, sich mit Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und weiteren Ideologien der Ungleichwertigkeit sowie deren Verschränkungen fundiert auseinanderzusetzen und auf allen Ebenen vehement entgegenzutreten. Hier ist jeder Einzelne gefordert, sich solidarisch an die Seite der Betroffenen zu stellen und für eine offene und heterogene Gesellschaft aktiv zu werden, in der alle ohne Angst verschieden sein können“, resümiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung.

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1 “Cis” bezeichnet Menschen, die sich mit dem Geschlecht, welches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, identifizieren.